Warten statt starten

Warum unterbrochene Lieferketten agile IT-Projekte untergraben – auch bei Auslagerungen und in der Cloud. Ein Kommentar.

Veröffentlicht in: Datacenter-Insider und IT-Business 09/2022

Warum unterbrochene Lieferketten agile IT-Projekte untergraben

Agilität ist heute in der IT eine Conditio sine qua non – insbesondere bei der Softwareentwicklung. Aber auch in Infrastrukturprojekten und im Deployment wird agil gearbeitet. Hier ist die (Hardware-)Beschaffung ein notwendiger Teil des Prozesses, die bislang kaum eine ernsthafte Hürde darstellte. Das hat sich im Zuge der Pandemie gründlich geändert.

Plötzlich ist die Beschaffung der Flaschenhals, sind Komponenten über Monate nicht lieferbar. Das untergräbt den agilen Charakter der Projekte nachhaltig, zwingt zu Alternativ- oder sogar temporären Notlösungen. Status quo in aktuellen Projekten ist, dass Beschaffungen bereits sehr frühzeitig vorbereitet werden müssen, um keine Projektverzögerungen zu riskieren. 12 bis 14 Monate Vorlaufzeit sind eher die Regel als die Ausnahme. Statt maßgeschneiderter, zeitnaher Planung wird deshalb künftig eher mit Kapazitätspuffern operiert werden müssen. Auch dadurch steigen die Materialkosten, die dann anderweitig zumindest teilweise kompensiert werden müssen. Ein Mechanismus, der agilen Ansätzen ebenso im Wege steht.

Engpässe für Kunden und Provider

Unterbrochene Lieferketten beeinträchtigen aber nicht nur neue Projekte, sondern auch bestehende Vertragsbeziehungen – und bringen nicht nur Anwender, sondern auch IT-Provider in Schwierigkeiten. Beispiele: Bereitstellung von Endgeräten oder die Einhaltung von vereinbarten Austauschzyklen für Geräte. Durch die Knappheit steigen die Preise bin zu einem Punkt, an dem laufende Verträge für Provider unwirtschaftlich werden – falls sie sich nicht rechtzeitig abgesichert haben. Hier sind Nachverhandlungen zu erwarten, die aber einen der Hauptvorteile eines (guten) Outsourcings untergraben: die Kostensicherheit. Bei neuen Verträgen werden Risikoaufschläge eingeplant, die Auslagerungen unattraktiver machen. Dabei kann aber leicht in Vergessenheit geraten, dass bei einem potenziellen Eigenbetrieb die gleichen Schwierigkeiten warten – und das Risiko hier nicht geteilt werden kann.

Die Cloud als Ausweg?

Der Ausweg aus dieser Situation liegt auf der Hand und wurde auch schon vor den Engpässen in den Lieferketten gegangen: ein verstärkter "lift and shift" in die Cloud. Wenn selbst keine kurzfristige Beschaffung möglich ist, kann die bestehende Infrastruktur von Microsoft, AWS und Co. die Lücken schnell füllen – was auch im Interesse eines agilen Projektmanagements liegt.
Aber: Von wegbrechenden Lieferungen ist auch die Cloud betroffen. Es sind erste Fälle bekannt geworden, in denen große Cloud-Provider bestehenden Kunden die Erweiterung ihrer Cloud-Umgebung verweigert haben. Die "Elastizität" der Cloud, ein wesentlicher Teil der NIST-Definition des Begriffs, ist also auch nicht mehr bedingungslos garantiert.

Es bleibt die Feststellung: Planungssicherheit geht derzeit deutlich auf Kosten der Agilität. Ohne verfügbare oder zumindest planbare Infrastruktur verlieren agile IT-Projekte ihre Effektivität. Und das betrifft ausgelagerte Services und deren Provider genauso wie den Eigenbetrieb oder die Migration in die Cloud.

Auch wenn es widerstrebt: Im Moment sind temporäre Lösungen gefordert. Denn es gibt keinen wirklichen strukturellen Grund für eine dauerhafte Verknappung. Andererseits legt die aktuelle Situation die Abhängigkeiten schonungslos offen. Deshalb muss es das Ziel sein, künftig Alternativstrategien bereitzuhalten.

Ein möglicher Lösungsansatz ist die Kombination agiler Planung mit den Vorteilen der Cloud: kurzfristig verfügbar und kurzfristig kündbar. Bei einem Infrastrukturprojekt könnte man zu einem frühen Zeitpunkt eine erste, sicher benötigte Tranche an Geräten bestellen. Konkretisiert sich der restliche Bedarf im weiteren Verlauf des agilen Projektes, dann können später durch lange Lieferfristen auftretende Engpässe mit Cloud-Infrastruktur überbrückt werden. Das ist unter Umständen günstiger, als zu viel oder sogar das Falsche zu bestellen.

Denkbar ist auch eine Reaktion des Marktes, wie sie in ähnlicher Form seit Langem im Flugzeugmarkt mit seinen traditionell beträchtlichen Lieferfristen praktiziert wird: Der Händler oder Hersteller übernimmt (quasi als zusätzliches Geschäftsmodell) das Abnahmerisiko für Bestellungen mit weit in der Zukunft liegenden Lieferterminen. Der Kunde zahlt dafür höhere Preise, hat dann aber nur für einen Teil der Lieferung eine Abnahmeverpflichtung, der Rest wird als Option gehandhabt und kann im Falle einer Stornierung vom Händler zu Last-Minute-Preisen an andere Kunden vermarktet werden – also an die, die zu hoch gepokert und zu spät bestellt haben. Kurzum: eine Win-Win-Win-Situation für alle drei Beteiligten.

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