Veröffentlicht in: Cloudcomputing-Insider 01/2024
Neulich bei einem großen deutschen Finanzdienstleister: Im Rahmen eines Transformationsprogramms sollten verschiedene Anwendungen in eine Public-Cloud-Umgebung umziehen – und zwar übers Wochenende. Dieselben Mitarbeiter, die also zum Beispiel ein CRM-System am Freitag noch on Premise genutzt hatten, sollten nach der Vorstellung des Managements ab Montag früh den Betrieb in der Cloud übernehmen. Ergebnis: Das Team weigerte sich angesichts der Kritikalität der Anwendungen und Daten schlicht, die Verantwortung zu tragen, weil sie sich (noch) nicht dazu in der Lage fühlte. Vorangegangen waren zwar einige technische Trainings bei dem Hyperscaler – ein erster Baustein, mehr aber auch nicht.
Meuterei? Befehlsverweigerung? Nein, eine gescheiterte Transformation, die die Menschen nicht abholt, vorbereitet und befähigt. Eine Transformation, die den absolut notwendigen Kulturwandel im Unternehmen vernachlässigt und damit nicht die Strukturen und das "Mindset" bei den Mitarbeitern schafft, die einen Wechsel in die Cloud jenseits des reinen Betriebsmodells der IT erst aus- und wirtschaftlich machen.
Schluss mit dem Silodenken
Schon mit der Einführung zentraler Data Warehouses vor zwei Jahrzehnten keimte die Hoffnung, in Unternehmen die Datensilos sukzessive auflösen und damit die Datennutzung vereinheitlichen zu können. Das ist, wie wir heute wissen, nur teilweise Realität geworden. Beim aktuellen Paradigmenwechsel, dem Schritt in die Cloud, ist das aber keine Option mehr, sondern eine Bedingung: Die Art und Weise bisheriger (Zusammen-) Arbeit steht nicht nur auf dem Prüfpunkt, sondern ist zentraler Erfolgsfaktor dieser Multi-Transformation. Die Parole muss lauten "raus aus den Silos, rein in die crossfunktionalen Strukturen". Und damit greift diese Transformation ganz tief in die Art der Zusammenarbeit im Unternehmen ein – weil Cloud-Services fundamental anders funktionieren (müssen), um wirklich Business-Vorteile zu bringen.
Cloud bedeutet einen ständigen Wandel, denn Cloud-getriebene Veränderungen haben kein fixes Ende. Das ist kein Selbstzweck, sondern eine Folge der immer digitaler werdenden Märkte, die sich damit auch immer schneller verändern. Wer also zum Beispiel als Bank oder Versicherung mit den Ansprüchen der Kunden mitgehen will, hat keine Wahl und muss sich dem Wandel und dessen Tempo anpassen.
Neue Arbeitsteilung, neue Verantwortung
Müssen sich also das Unternehmen und seine Mitarbeitenden der Technologie unterordnen? Nein, aber Struktur und Zusammenarbeit verändern sich fundamental. Die gesamte Organisation ist (wie die Technologie) auf Wertströme ausgerichtet. Anstatt IT- und Geschäftsprozesse strikt zu trennen, wird die Verantwortung für Technologie und Fachlichkeit idealtypisch an einer Stelle gebündelt, um maximal effizient und zielorientiert zu agieren. Hierdurch lassen sich Mehrwerte klar benennen und dazu nötige Handlungen einfacher identifizieren.
Dazu werden IT- und Geschäftsprozesse in unterschiedliche Wertströme unterteilt, für die Produktteams die vollständige Verantwortung erhalten. So entsteht ein Fokus auf konkrete Mehrwerte und durch die interdisziplinären Rollen innerhalb des Teams auch die Möglichkeit, sowohl Entwicklung als auch Betrieb und Sicherheitskonzept als eigenständige Einheit abzudecken (DevSecOps). Um das zu realisieren, arbeiten Experten verschiedener Bereiche eng in einem Produktteam zusammen.
Die zentrale IT wiederum fungiert als Service-Provider und stellt zentrale Plattformteams, quasi ein Cloud-Broker im Unternehmen. Sie schaffen die Voraussetzungen für eine möglichst hoch automatisierte, sichere und sinnvolle Nutzung der Cloud unter Beachtung sämtlicher Vorschriften aus der IT-Compliance, -Regulatorik und -Sicherheit. Diese Plattformteams ertüchtigen die Produktteams, zum Beispiel durch Schulungen, und sie geben die Leitlinien für eine einheitliche Struktur und Strategie vor. Zudem fördern sie aktiv den Community-Gedanken und damit den Austausch zwischen den Produktteams.
Cloud Provider trägt die Verantwortung mit
Anders als bisher gibt es in einem Cloud-Betriebsmodell einen weiteren, einflussreichen Player: den Provider. Er wird deshalb mit in die Pflicht genommen und übernimmt gemeinsam neben Produkt- und Plattformteams Verantwortung, die im Kontext viel zitierte "shared responsibility". Je nach Modell ist der Cloud-Service-Provider für Sicherheit, Betrieb und Wartung der von ihm bereit gestellten Ressourcen und Dienste zuständig, bietet standardisierte Tools und Dienstleistungen zur Überwachung, zum Management und zur Skalierung an und stellt auf einer zentralen Plattform Informationen bezüglich der Einhaltung von Compliance und Vorschriften bereit. Andererseits erbringt er ausdrücklich keine individuelle Dienstleistung und bedient lediglich standardisierte Schnittstellen.
Das Plattformteam sorgt für Konfiguration, Verwaltung und Optimierung der Infrastruktur und konzentriert sich auf Aspekte wie die Implementierung der unternehmensspezifischen Security Controls, Ressourcenmanagement und die Einhaltung von Compliance und Governance. Das Produktteam wiederum ist verantwortlich für die Entwicklung und Bereitstellung von Services zur Erfüllung der Geschäftsanforderungen und greift dabei auf die Plattform zurück, stiftet damit den eigentlichen "cloud business value".
Die konsequente Umsetzung dieser Struktur ist nicht von heute auf morgen möglich, sie kann mitunter Jahre dauern. Essenziell ist aber, dass die Mitarbeitenden das Prinzip der geteilten Verantwortung und dessen Sinn verstehen.
Querschnitts-Allianzen und Lieferhelden
Auf diese Weise entstehen viele neue und neu zu denkende Funktionen und Aufgaben im Unternehmen. Sehr viele davon sind zumindest teilweise als Querschnittsfunktionen zu verstehen. Das erfordert neue Allianzen und neue organisatorische Bindeglieder.
Das ruft Abteilungen auf den Plan, die bislang als Bremser oder Verhinderer gelten. In einer Cloud-Transformation können IT-Governance und -Compliance hingegen zum Game Changer und zum echten "Lieferhelden" werden. Denn Governance- und Compliance-Anforderungen müssen im Cloud-Kontext von Produkt- und Plattformteams ohnehin neu gedacht werden. Da liegt es nah, crossfunktionale Kompetenzen und Strukturen in der Organisation mit agilen Tugenden zu entwickeln und so für mehr Anpassungs- und Lernfähigkeit, Geschwindigkeit und Wissen zu sorgen. Aus den vormals als Störfaktoren wahrgenommenen Governance- und Compliance-Kollegen werden echte Verbündete.
Kulturwandel steht am Anfang
Neue Strukturen, neue Verantwortungen, neue Freiheitsgrade: Wer als Unternehmen seine Belegschaft in einem so radikalen kulturellen Wandel nicht "an die Hand nimmt", provoziert je nach Temperament der Menschen entweder ziellosen Aktivismus, Frustration oder sogar Resignation.
Tatsache ist: Für Mitarbeitende in Business und IT werden sich durch intensivere Cloud-Nutzung wesentliche Bestandteile ihrer Arbeitsprozesse ändern. Die neuen, cloudspezifischen Rollen hingegen verlangen Wissen, welches zuvor in dieser Breite nicht gefragt war.
Das schafft nicht nur Erklärungs- und Weiterbildungsbedarf, der gedeckt werden muss. Entscheidend ist es, die Mitarbeitenden von Anfang an in die Planung mit einzubeziehen und schrittweise an die neuen Anforderungen heranzuführen. Nur so entsteht Veränderungsbereitschaft und Verantwortungsgefühl – beides zentrale Erfolgsfaktoren, um die Potenziale der Cloud-Transformation voll ausschöpfen zu können.
Die Organisation von cloudbasierten Arbeitsstrukturen – auch das ist grundlegend neu – funktioniert mehr bottom up" als "top down", nicht per Order und schon gar nicht übers Wochenende. Wer sich als Unternehmen am Montag nicht über Blockadehaltung wundern, sondern langfristig von der Cloud profitieren will, muss zuallererst an der Kultur arbeiten.